Götze bereut zu frühen Wechsel vom BVB zum FCB: “Ich konnte nicht einordnen, was es für ein Glück war, mit Jürgen Klopp zusammenzuarbeiten. Ich habe gedacht: Alle Trainer sind so wie Jürgen. Nach ein paar Jahren musste ich feststellen: Das ist definitiv nicht der Fall. Keiner sonst ist so.”

by Ubergold

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  1. Frankfurt, 3. Juni 2024

    Lieber Mario,

    wenn du diesen Brief liest, bist du 17 Jahre und 171 Tage alt. Es ist der 21. November 2009, der Tag deines ersten Bundesligaspiels. Es ist ein Tag, an den du dich lange erinnerst, vermutlich für immer, weil es der Moment ist, von dem du später sagen wirst: So hat alles angefangen.

    Es ist ein Tag, den aber nur du nicht vergisst. Ich sage es dir lieber gleich: Vor dir liegt ein Leben, von dem Du heute noch keine Ahnung hast, von dem Du auch keine Ahnung haben kannst. Es ist ein Leben, von dem du nicht glaubst, dass du es jemals führen wirst. Aber so wird es sein.

    Denn es kommt noch ein anderer Tag. Einer, den du auch nicht vergisst. Aber den auch Millionen andere Menschen nicht vergessen werden. Aber dazu später.

    Ich schreibe dir diesen Brief am 3. Juni 2024. Ich werde heute 32 Jahre alt, bin verheiratet und habe zwei Kinder. Und ich habe gerade meine 14. Saison als Profifußballer beendet, bei Eintracht Frankfurt.

    Ich will dir keine großen Ratschläge geben für dein Leben, lieber Mario. Der Zeitgeist heute ist ein ganz anderer als zu der Zeit, als ich 17 war. Und auch dein Mindset ist ein ganz anderes, als ich es heute als Familienvater habe. Ist mir klar. Und mit Ratschlägen, die man bekommt, ist es immer schwierig, weiß ich selbst.

    Ich will dir lieber sagen, was auf dich zukommt. Damit du damit vielleicht besser umgehen kannst, vielleicht auch besser, als ich es konnte. Wenn das überhaupt geht. Wir haben jetzt 2024 und ins Jahr 2009 zurückzugehen ist eine Zeitreise.

    Bisher hat sich für dich alles im Normaltempo entwickelt. Du bist mit deinen Eltern und deinen Brüdern aus dem Allgäu nach Dortmund gezogen. Du bist mit nicht einmal zehn Jahren zu Borussia Dortmund gegangen, zum BVB, hast zunächst in der E1-Jugend gespielt und dort dann alle Jugendmannschaften durchlaufen. Alles normal. Aber wer will das, auf Dauer?

    Dir ist zunächst gar nicht bewusst, dass du herausragst. Du gehst zur Schule, siehst Fußball als Hobby, willst eigentlich nur ein bisschen “zocken”, wie du es nennst. Du weißt gar nicht, was es wirklich bedeutet, dass du in den Jugendnationalmannschaften spielst, dass du in der A-Jugend zwei Jahre jünger bist als alle anderen, weil du so gut bist.

    Dass dir das nicht ganz klar ist, liegt vielleicht auch daran, dass deine Welt noch nicht digital ist. Das schützt dich, noch. Es gibt im Jahr 2009 kein Social Media, wie wir es heute kennen. Wo alles für alle präsent ist, immer. Aber das ist noch mal ein Thema für sich.

    Dein erstes U15-Länderspiel wurde live im Fernsehen übertragen. Da hast du schon ein bisschen die Aufmerksamkeit gespürt, aber im Grunde sind dir die Dimensionen nicht klar. Du fühlst dich weiter wie ein ganz normaler Junge, der gerne Fußball spielt. That’s it. Reicht ja auch.

    Du bist glücklich. Und du willst immer nur weiter Fußball spielen. Du weißt, dass du Talent hast. Alles entwickelt sich wie von selbst. Aber trotzdem ist da schon früh noch ein anderes Gefühl. Du sagst dir: “Ich muss mehr machen als andere, mehr trainieren, mehr arbeiten.” Und wächst in einem Bewusstsein auf, das für dich selbstverständlich wird:

    Mehr trainieren!

    Mehr trainieren!

    Mehr trainieren!

    Dein erstes Training bei den Profis hast du in Dortmund gemacht. In einer Länderspielpause durftest du mittrainieren, du bist 15 Jahre alt.

    Und heute, am 21. November 2009, wechselt dich Jürgen Klopp, dein Trainer, gegen Mainz 05 kurz vor Schluss ein. Jetzt bist du 17 – und Bundesligaspieler, die Profikarriere liegt vor dir. Aber du bist überhaupt nicht darauf vorbereitet, was auf dich zukommt. Das geht auch gar nicht. Du kannst dich auf das, was du erleben wirst, nicht vorbereiten. Sei froh!

    Eine Krux bei guten Ratschlägen gibt es immer: Jeder hat seine eigenen Gefühle, seine eigenen Emotionen. Da kann man nichts machen. Was für den einen passt, muss für den anderen nicht passen. Aber es gibt Dinge, die gelten immer, zumindest gelten sie für mich:

    Du musst deine eigenen Erfahrungen machen.

    Du musst es fühlen.

    Du musst es spüren.

    Und du musst verstehen, was das alles mit dir macht. Das ist eine Aufgabe, die kann dir niemand abnehmen. Auch ich nicht. Aber ich kann dir von meinen Erfahrungen erzählen. Und davon, was ich mir in deinem Alter gewünscht hätte. Damals wusste ich noch nicht, was meine Wünsche waren. Gelassenheit, mehr Ruhe. Das wär’s gewesen …

    Doch Ruhe und Gelassenheit habe ich mir nicht gestattet, das waren meine Gegner. In mir herrschte ein anderes Gefühl:

    Jetzt!

    Alles muss jetzt sein!

    Alles muss perfekt funktionieren.

    Und zwar jetzt, jetzt, jetzt!

    Aber so ist der Fußball nicht. So ist der Sport nicht. So ist das Leben nicht.

    Ich kann dir aus Erfahrung sagen: Gib dir Zeit! Du fragst dich jetzt: “Warum? Was will der Typ mir jetzt erzählen? Der ist über 30 und hat keine Ahnung von meinem Leben.”

    Doch, ein bisschen schon. Und mir ist schon klar, dass du so denkst. So habe ich auch gedacht. Ich sage es dir trotzdem, damit du die Dinge, die auf dich einstürzen werden, durchleben kannst. Ich meine wirklich durchleben. Damit du sie verarbeiten kannst, damit sie dir nicht einfach nur passieren, sondern du deine Schlüsse daraus ziehen kannst. Warum? Um gute Entscheidungen zu treffen.

    Im Rückblick kann ich dir sagen: Du weißt erst später, welche Entscheidung richtig war – und welche falsch. Sehr schlau, ich weiß. Aber du weißt es nicht in dem Moment, in dem du dich entscheiden musst. Ganz egal, was die Menschen um Dich herum sagen. Heute bin ich ein großer Fan von der Einstellung, dass alles, was passiert, aus einem bestimmten Grund passiert. Vorhersehung.

    Ich konnte nicht einordnen, was es für ein Glück war, mit Jürgen Klopp zusammenzuarbeiten. Er war der erste Trainer in meiner Profikarriere. Und ich habe gedacht: Alle Trainer sind so wie Jürgen. Jetzt, wo ich dir das schreibe, muss ich selbst darüber lachen. Nach ein paar Jahren musste ich feststellen: Das ist definitiv nicht der Fall. Keiner sonst ist so.

    Auch in dem Fall kann ich dir nur sagen: Woher willst du das mit 17 Jahren wissen? Das kannst du nicht. Du brauchst einige Jahre, um auch das richtig einordnen zu können. Heute kann ich wertschätzen, wie gut und wichtig es für mich als junger Spieler gewesen ist, dass Jürgen zu Beginn meiner Karriere mein Trainer war. Am Anfang von allem.

    Er hat mir auf dem Platz geholfen. Er hat mir neben dem Platz geholfen. Er hat mich als Spieler und als junger Mensch gecoacht. Er hat ein ganz besonderes Gespür für Menschen, ob jung, ob alt. Er hat ein Gespür für den Verein. Ein Gespür für alles, was wichtig ist, um Erfolg zu haben.

    Für mich war das aber ganz normal, ich habe das für nichts Besonderes gehalten. Ich wusste es nicht besser, ich hatte ja keine andere Erfahrung. Nur diese gute.

    Daher sage ich dir: Es sind scheinbar ganz banale Dinge, die große Wirkung haben. Wir haben uns jeden Tag beim Training gesehen, wir hatten ständig Kontakt. Alles hatte eine große Selbstverständlichkeit. Dass er im Training nach einem guten Spiel dafür gesorgt hat, dass ich genau an diesen Dingen weiterarbeite, die ich gut gemacht habe. Dass er mich, auch wenn ich zehn Spiele gut gespielt habe, beim elften Spiel auf die Bank gesetzt hat. Dass er mich angemeckert, mich angebrüllt hat: “Du musst alles geben, brennen!”

    Und mich dann in den Arm genommen hat. Dass er sich mit mir über Themen außerhalb des Fußballplatzes unterhalten hat, über meine Eltern, über Privates. Dass er fragte, wie es mir geht, wie es meinen Eltern geht. So normal. So wichtig.

    In einem Spiel in Fürth, da war ich 18, habe ich einen Hackentrick gemacht. Jürgen hat mich an die Seitenlinie geholt und gesagt: “Mach das nicht noch mal, sonst wechsle ich dich aus. Du musst Respekt auch für den Gegner haben.” Er hat mir Werte vermittelt, nicht nur für das Spiel, auch fürs Leben. Bis heute.

    Wenn du so einen Trainer hast, dann ist das eine große Hilfe, die ich in deinem Alter noch nicht richtig einschätzen konnte. Du wirst im Sommer deine erste Profisaison spielen. Du wirst das erste Mal in der ersten Mannschaft spielen, mit erwachsenen Männern, die teilweise über zehn Jahre älter sind als du selbst. Das ist echt ein Schritt.

    Jürgen ist ein besonderer Trainer, ein besonderer Mensch. Das weißt du natürlich, steht ja heute überall. Im Nachhinein hätte ich länger bei ihm bleiben sollen. Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich die Reise, die er mit mir im Alter von 17, 18 Jahren begonnen hat, noch ein paar Jahre länger mit ihm gemacht hätte. Dann hätte ich auch alles, was ich von ihm bekommen habe, mehr wertschätzen können.

    Ich kann dir sagen, dass ich den negativen Dingen, die es auch in sehr guten Zeiten für mich gegeben hat, eine zu große Bedeutung beigemessen habe. Als ich ein paar Monate verletzt war, hat mich Jürgen, als ich wieder fit war, nicht spielen lassen. Das hat mir nicht gefallen. Ich wollte natürlich spielen, ich wollte immer spielen. Warum tut er das? Ich habe gehadert.

    Wenn du einmal einen besonderen Trainer wie Jürgen bekommst, dann zieh dir die positiven Seiten in vollen Zügen rein. Auch wenn du sie für alltäglich hältst. Kannst du dir wirklich merken.

    Du kennst mich. Und ich kenne dich. Ich wollte als Athlet immer mehr. Ich wollte so hoch hinaus, wie es nur geht. Und das so schnell wie möglich, am besten: sofort. Ich habe Herausforderungen gebraucht wie die Luft zum Atmen, ich wollte immer neue challenges. Seit meiner Kindheit wollte ich nur eins: mich mit den Besten messen. Und zeigen, dass ich mithalten kann, dass ich besser bin.

  2. Danke fürs Teilen, habe das Lesen sehr genossen. Werde nie vergessen, wie krass gut Götze damals war und wie enttäuschend die Jahre nach der WM verliefen.

    Würde sicher dem einen oder anderen Talent guttun, seinen Brief zu lesen und sich einiges davon zu Herzen zu nehmen.

  3. Ein sehr emotionaler und tiefer Einblick in das Gefühlsleben eines Fußballers, aber vor allem eines Menschen. Den Text sollten sich viele junge Fußballer, auch die, die nicht bei Dortmund oder unter Jürgen Klopp spielen, zu Herzen nehmen sollten. Götze ist das Paradebeispiel dafür, dass es vielen gut tun würde sich Zeit zu nehmen. Die Bayern, Real und Barca kommen auch mit 27 noch. Die müssen es nicht immer schon mit 20 sein.

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