Sahins BVB-Fußball in der großen Analyse: Neuer Spielstil lässt sich bisher nur erahnen

by Ubergold

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  1. Nuri Sahin wählte keine bescheidenen Worte, als er sich als neuer Trainer des BVB vorstellte. „Borussia Dortmund und die Stadt Dortmund stehen für etwas. Und ich will, dass man das jedes Wochenende erkennt, dass Borussia Dortmund Fußball spielt.“ Aktiv solle seine Mannschaft spielen, furchtlos und dominant auftreten. „Wir wollen den Ball haben. Wir wollen entscheiden, in welche Richtung das Spiel läuft.“

    Neun Pflichtspiele hat Sahin mittlerweile mit dem BVB bestritten. Seine Vorstellung konnte er bislang nur in Teilen umsetzen. In Ansätzen lässt sich bereits erahnen, in welche Richtung Sahin die Mannschaft entwickeln will. Doch noch kann Sahin die Puzzlestücke nicht zu einem Ganzen zusammenfügen.

    Den deutlichsten Unterschied zu seinem Vorgänger Edin Terzic hat Sahin bereits bei seiner Vorstellung indirekt angesprochen: Sahin legt einen wesentlich höheren Wert auf das Ballbesitzspiel. Zwar hatte der BVB auch unter Terzic in vielen Spielen hohe Ballbesitzwerte. Doch in wichtigen Partien setzte der Ex-Trainer auf defensiveren Konterfußball.

    Sahin hingegen möchte, dass seine Mannschaft das Spiel flach eröffnet. Zu Beginn der Saison stellte sich der BVB im Aufbau in einer 3-2-Formation auf. Ein Außenverteidiger rückte weit vor, während der andere sich in der eigenen Hälfte anbot. Zuletzt hielten sich beide Außenverteidiger zurück. Der BVB baute aus einer 4-2-Formation auf.

    Letztere Formation hat den Vorteil, dass die Abwehrspieler noch mehr Anspielstationen im Aufbau finden. Sahin möchte, dass seine Mannschaft den Ball in der eigenen Abwehr laufen lässt. Erst sobald der Gegner zum Pressing übergeht, soll der Ball nach vorne gespielt werden. Damit orientiert sich Sahin an aktuellen Top-Klubs wie Bayer Leverkusen, dem VfB Stuttgart oder auch dem FC Bayern. Es ist zugleich eine Abkehr des eher vorhersehbaren Spielaufbaus der vergangenen Saison, als der BVB früher und schneller lange Bälle einstreute.

    Es ist aber keineswegs so, dass Sahins Team gänzlich auf lange Bälle verzichtet. Sobald der Gegner weit vorgerückt ist, überspielt der BVB das eigene Mittelfeld. Der Ball wird direkt an die letzte Linie gespielt. Dort soll Stürmer Serhou Guirassy den Ball halten und für seine Kollegen ablegen.

    Julian Brandt genießt hinter Guirassy eine freie Rolle. Er sucht Lücken in der gegnerischen Formation. Dort erhält er Zuspiele aus der Abwehr oder von Guirassy. Auch die Außenstürmer bewegen sich viel. Sie attackieren immer wieder die letzte Linie des Gegners.

    Beim 7:1-Erfolg gegen Celtic stellte der BVB unter Beweis, dass er Sahins Ideen umzusetzen weiß. Die Dortmunder überspielten das Glasgower Pressing mit Leichtigkeit, sie fanden immer wieder Brandt und Karim Adeyemi zwischen den Linien. Auch in den Zahlen spiegelt sich Sahins neuer Spielstil bereits wider: Der BVB spielt im Schnitt 17,2 Pässe, ehe der Gegner zu einer Defensivaktion kommt. In der vergangenen Saison lag der Wert bei 14,7.

    Dass noch viel Arbeit vor Sahin liegt, beweisen die Leistungen in der Bundesliga. Union Berlin legte offen, wie man den BVB pressen muss. Die Berliner stellten Dortmunds Anspielstationen über eine Manndeckung zu. Der BVB fand keine Lösungen gegen das hohe Pressing.

    Im Spiel an der Alten Försterei zeigten sich die Schwachstellen der Dortmunder Mannschaft. Diese finden sich besonders im Mittelfeld. Emre Can und Pascal Groß fehlt die Abstimmung, um das Mittelfeld zu dominieren. Im Aufbau ähneln sich ihre Laufwege. Gegen den Ball neigen beide Spieler dazu, früh herauszurücken. Dadurch öffnen sich Lücken im Zentrum. Gegner nutzen diese Lücken im Umschaltmoment aus.

    Anfällig für Konter war der BVB bereits in der vergangenen Spielzeit. Damals bügelte die Abwehrkette viele Fehler der Vorderleute aus. Nico Schlotterbeck hingegen leistet sich in dieser Spielzeit Patzer um Patzer. Auch Waldemar Anton fehlt noch die Beständigkeit.

    So ist gerade das Pressing der Dortmunder aktuell noch eine Baustelle. Sahin setzt auf ein 4-2-3-1-Pressing. Dieses ließ bereits Jürgen Klopp in Dortmund spielen. Gegen den VfB Stuttgart zeigte sich aber, dass dem BVB die Wucht und Eingespieltheit abgeht, um einen spielstarken Gegner wirklich unter Druck zu setzen.

    Ein starkes Pressing wird jedoch benötigt, um das eigene Ballbesitzspiel ins Ziel zu bringen. Schließlich hat ein erfolgreiches Pressing den Nebeneffekt, den Ballbesitz des Gegners kleinzuhalten. Somit hat man selbst mehr Möglichkeiten anzugreifen. Doch der BVB verfügt bislang weder über eine starke tiefe Verteidigung wie Bayer Leverkusen noch über ein radikal-offensives Pressing wie Bayern München. Im Spiel gegen den Ball muss sich Sahins Handschrift erst noch zeigen.

    In Teilen kann Sahin widrige Umstände für den schwankenden Saisonstart heranziehen. Dass mit Guirassy der entscheidende Spieler für das Überspielen des Pressings zunächst ausfiel, hat der Mannschaft kaum geholfen. Ebenso bitter war die Tatsache, dass mit Adeyemi der formstärkste Stürmer plötzlich ausfiel. Seine Tiefenläufe und Schüsse aus der zweiten Reihe fehlen dem Angriffsspiel.

    Dennoch: Gerade in der Bundesliga lassen sich Sahins Vorstellungen häufig nur erahnen. Auswärts wirkt der BVB bisweilen wie eine Kopie der vergangenen Saison: löchrig im Pressing, fehlerhaft in der Abwehr, ideenarm im Spielaufbau. Wenn der Gegner den geforderten 4-2-Aufbau zustellt, fehlt ein Plan B.

    Sahin selbst bittet um Geduld. Er weiß, dass sich seine Vorstellung eines aktiven Fußballs nicht binnen acht Wochen umsetzen lässt. Doch der frühere BVB-Spieler weiß auch, dass Zeit im Fußball ein schnell aufgebrauchtes Gut ist. Er muss die Lücken in seinem System schließen – und das schneller, als er es sich vorgestellt hat.

  2. Ein Großteil des Problems bleibt es, dass der Mannschaft seit Jahren Grundvorraussetzungen des Zusammenspiels fehlen.

    Im Spielaufbau fehlt die automatische Idee/Bereitschaft, sich freizulaufen und anzubieten. Das wird nur halbherzig gemacht, aber sobald der Gegner eine Manndeckung macht, war es das mit dem Aufbauspiel und dann wird es oft schlimm und pures Stückwerk. In der Vergangenheit lösten starke Individualisten wie Haaland, Sancho (nicht der vom letzten Jahr) oder Bellingham solche Probleme. Diese Spieler gibt es so aber nicht mehr.

    Aber auch Defensiv fehlen Automatismen zum Stoppen eines Angriffs. Die meisten agieren wie junge Hunde: Dem Ball hinterher. Weder wird ein Gegner in eine Abwehrsituation getrieben, noch werden neuralgische Zonen (Raum vor der Kette bspw.) besetzt.

    Der BVB braucht eigentlich dringend einen klassischen Fußballlehrer, der tatsächlich einfach nur diese Themen bimst. Der Kader des BVB – auch wenn diese Super-Individualisten fehlen – ist ziemlich stark. Das kommt nur nicht zur Geltung, weil die Mannschaft nie mehr als die Summe aller Spielerstärken ist – meistens weniger. Normalerweise hast du Synergien, Multiplikatoren, weil sich Spieler gut ergänzen – das fällt da vollkommen flach.

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